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Feb 2022
Warum Mitsprache so wichtig ist

Endlich mehr Mut zu Beteiligung

In den Erziehungshilfen läuft etwas schief.

Es wird viel von Mitsprache, Beteiligung und Beschwerdemöglichkeiten von Kindern und deren Familien gesprochen. Das Kinder-und Jugendstärkungsgesetz, die Konzepte der Einrichtungen und die Fachliteratur quellen förmlich über vor Versprechungen und Forderungen nach mehr Beteiligung. Der Persönlichkeit der Kinder, ihren individuellen Biographien und ihrem Eigensinn werden hier viel Wertschätzung entgegengebracht.

Im Betreuungsalltag der Kinder und Jugendlichen scheint hiervon erstaunlich wenig anzukommen.

Leider gibt es nach wie vor große strukturelle Umsetzungsprobleme. Die Lücke zwischen Theorie und Praxis ist nach wie vor riesig.

Woran liegt das? Warum wird das eine gesagt und das andere getan? Warum wird so viel über Beteiligung geschrieben und dann doch wieder von „oben herab“ bestimmt? Wieso fällt es den Akteuren der Erziehungshilfen so unglaublich schwer, die Wünsche und Interessen der ihnen Anvertrauten einfach ernster zu nehmen? Zeitmangel? Angst vor Kontrollverlust? Eine verschobene Selbstwahrnehmung? Eine unzureichende Ausbildung von Pädagogen? Fehlende Kontrollen? Stimmt die Behauptung überhaupt, dass es hier ein Problem gibt?

Ein Beispiel aus dem Alltag:

Über einen Jungen, der von uns in eine Heimgruppe gewechselt ist, berichtete die Erzieherin aus dem Heim. Der Junge weine oft, weil er seine Mutter kaum noch sehen dürfe. Um sie am Wochenende besuchen zu können, müsse er die Woche über eine gewisse Anzahl an Punkten für gutes Benehmen sammeln. Da es oft Stress gebe, fielen die Besuche häufig aus. So seien die Regeln im Heim.

Man könnte den Eindruck erhalten, die Pädagogik sei irgendwo zwischen den 70ger und 80ger Jahren des vorigen Jahrhunderts steckengeblieben. Warum ist das so? Es lassen sich viele Thesen aufstellen, warum die momentane Erziehungshilfe in der Umsetzung ihrer Ideen noch in den Kinderschuhen steckt.

Ein Ansatz könnte sein, dass der Wert von Beteiligung noch viel klarer werden muss. Beteiligung ist anstrengend. Sie bedeutet ein Infragestellen von gewohnten Regeln, die Jugendlichen dürfen „plötzlich“ ihre Meinung äußern und sollen Veränderungen bewirken können. Das kann Ängste hervorrufen. Es gibt Vorgesetzte, die auf eine Beteiligung von Jugendlichen mit „die dürfen doch nicht tun und lassen, was sie wollen“ reagieren. Beteiligung stellt eine nicht zu unterschätzende Herausforderung und Anstrengung an die Pädagogen dar. Kinder und Jugendliche sind nicht mehr nur Empfänger von noch so wohlwollend und pädagogisch wertvoll verpackten „Ansagen“. Sie sind zu Persönlichkeiten geworden, die mitreden dürfen. Stehen den Pädagogen da nicht anstrengende Zeiten mit zunehmenden Kontrollverlusten bevor?

Es wird viel über Beteiligung gesprochen, aber es wird wenig Werbung für den Sinn und die Bedeutung von Beteiligung gemacht.

Dass man Kindern bisweilen Grenzen setzen muss und ihnen beibringt, wie man sich anständig benimmt, ist in der Pädagogik kein neuer Gedanke. Aber warum eigentlich Beteiligung???

Lassen wir das Argument der „Menschenwürde“ mal kurz beiseite.

Ziel aller pädagogischen Anstrengungen ist es doch, die Kinder auf dieses diffuse Etwas namens „Gesellschaft“ vorzubereiten. Die Kinder sollen hier einen Platz finden, der sowohl für die Gesellschaft als auch für sie selber zufriedenstellend ist.

Kinder sollen zu gemeinschaftsfähigen und mündigen Bürgern werden. Dafür ist die Erziehungshilfe da. Das dies gelingt, ist sowohl im Interesse der Jugendlichen als auch im Interesse der Gesellschaft.

Dabei betont „gemeinschaftsfähig“  eher die Fähigkeit und Bereitschaft, sich anzupassen zu können.

„Mündig“ betont die Fähigkeit, sich eine eigene Meinung bilden zu können, kritische Distanz üben und abwägen zu können.

Jeder Mensch ist gefordert, diese widersprüchlichen Anforderungen unter einen Hut zu bringen um im Leben gut klar zu kommen. Wenn sich die Erziehungshilfen der Einfachheit halber auf den Aspekt der „Anpassung“ konzentrieren, tun sie den Kindern damit keinen Gefallen.

Der Trick ist, Anpassung an fremde Vorgaben und den Förderung von Eigensinn nicht als

„entweder/oder“ zu denken, sondern als „sowohl/als auch“. Beides in gelungenes Gleichgewicht zu bringen, die Interessen und Vorstellungen der Einrichtungen und die der Jugendlichen, das wird unsere „harte Nuss“ für die nächsten Jahre.

Das ist die auch Herausforderung, die an Kinder gestellt wird:

angepasst, aber nicht zu angepasst zu sein. Eigensinnig, aber nicht zu eigensinnig zu sein.

Die meisten Kinder können nicht einfach den Weg ihrer Eltern gehen, wie es vielleicht früher öfters mal war, sie müssen ihren eigenen Weg suchen und finden.

Die Fähigkeit, brav zu tun, was der Lehrer sagt, reicht nicht aus um im Leben klar zu kommen.

Jugendliche müssen heute etwas leisten, was früher weniger von ihnen verlangt wurde: Entscheidungen für das eigene Leben zu treffen. Sie sind gezwungen, zu wissen was sie wollen.

Dabei benötigen sie unsere Unterstützung.

Weiter oben habe ich gefragt, ob den armen Pädagogen jetzt unsichere und anstrengende Zeiten bevorstehen, mit Jugendlichen, die tun und lassen dürfen, was sie wollen.

Aus meiner Erfahrung heraus kann ich nur sagen: Nein, die Zeiten werden (meistens) nicht anstrengender. Sie werden für die Pädagogen schöner und wertvoller. Beteiligung ist keine Gefahr, sie ist eine grandiose Weiterentwicklung. Es gibt für mich kaum etwas Schöneres zu sehen, als Jugendliche, die mit mehr Gestaltungsmöglichkeiten überraschenderweise nicht einfach mehr Mist bauen, sondern weniger. Die ausgeglichener, weniger aggressiv, kooperativer, zufriedener und in manchen Lebensbereichen zumindest wesentlich motivierter durchs (Jugendhilfe-)Leben gehen.

Mehr Beteiligung führt nicht zu Kontrollverlust, sondern zu mehr Energie für die wichtigen Dinge des Lebens. Beteiligung kann sinnfreie Kämpfe beenden, die sowohl Pädagogen als auch Jugendliche zermürben.

In meiner Gruppe gab es mal einen Jungen(14), der wollte nur angemeldet werden, wenn er täglich anstatt um 15.30 um 15.00 gehen durfte. Außerdem wollte er Freitags frei haben und unter gar keinen Umständen in den Ferien in die blöde Gruppe kommen. Wir waren einverstanden. Einige Wochen später kam er dann regelmäßig von Montags bis Freitags und blieb bis 15.30. Ferienanmeldungen haben wir nicht bekommen, wer steht schon gerne so früh auf. Er war dann ohne schriftlich Anmeldung (fast) täglich ohne Machtkampf anwesend.

Es gibt viele Gründe für aus Sicht der Pädagogen unangemessenen Verhalten. Ein Grund mag sein, dass die Kinder bei ihren Eltern nie gelernt haben, wie man sich anständig benimmt. Ein weiterer Grund ist das Ringen um Selbstbestimmung. Insbesondere bei Heimkindern kann man davon ausgehen, dass das Gleichgewicht von Selbstbestimmung und Fremdbestimmung massiv gestört ist. Es ist in ihrem Leben mehr als bei vielen anderen Kindern geschehen, worauf sie keinen Einfluss hatten und womit sie ganz und gar nicht einverstanden waren. Wer bringt ihnen Verständnis dafür entgegen, wenn sie versuchen, dieses Gleichgewicht wieder herzustellen?

Ein 13 jähriger Junge, der kaum zu irgendwelchen Aktivitäten zu motivieren war, hat eine Weile  leidenschaftlich im Werkraum Holzgewehre gebastelt. Nach allen Regeln der Waffenbaukunst: Abzug, Zielvorrichtung – alles. Nicht gerade Produkte, die man in der Pädagogik gerne sieht,  aber er ist richtig in einen konzentrierten Arbeits-Flow gekommen, und das ist auch wertvoll.

Jedenfalls ist er am Ende seiner Arbeit immer abgehauen, anstatt aufzuräumen.  Mindestens vier Mal habe ich ihm angekündigt, er dürfe nicht weiter basteln, wenn er nicht seinen Kram wegräumt und kehrt. Jedes Mal bin ich eingeknickt und er durfte weiterbauen. Er war einfach zu schön, dass er mal etwas tat, was ihm Freude machte.

Seine zweite Leidenschaft war es, auf dem großen Trampolin der Schule Tricks zu üben. Hier fing er nach dem Sport plötzlich damit an, mir beim Abbauen zu helfen. Während die anderen Jungs sich umzogen, war er jedes Mal bereit mitzuhelfen, auch als Letzter und Einziger. Das hatte er früher nicht getan. Ich glaube, er wollte selber entscheiden dürfen, wann er hilfsbereit war. Vorgaben zu erfüllen war nicht so sein Ding. War ich jetzt als Pädagoge eher ein Weichei und Klappspaten oder hatte ich gut gearbeitet, weil ich den Raum für Selbstbestimmung zugelassen hatte? Darüber lässt sich sicher gut philosophieren.

Jugendliche brauchen die Möglichkeit, über Teile ihres Lebens selber bestimmen zu können, sonst lehnen sie sich (hoffentlich) mit Recht gegen zu viel Fremdbestimmung auf.

Wer kann ernsthaft Jugendliche erziehen wollen, die nicht so sind?

Warum bekommt man beim Mittagessen nur Nachtisch, wenn man vorher sein Gemüse aufgegessen hat? Ich wage zu behaupten, dass solche Regelungen in Familien heutzutage nicht besonders verbreitet sind. Wie sieht es in den Heimgruppe diesbezüglich aus?

Eine solche Regelung würden Jugendliche, die man in selbständigen Denken unterstützt wohl eher heute als morgen abschaffen. Solche Konstrukte gibt es doch nur noch, weil es Vorgesetzte gibt, die das irgendwann mal so gelernt haben. Und haben diese es nicht von ihren Vorgesetzten gelernt, die es von den Nonnen der 50er Jahre übernommen haben??? Entschuldigung, ich schweife ein wenig ab.

In der 5. Ausgabe der „Forum Erziehungshilfe“ (2021) gibt es einen schönen Bericht zur Tagung „Essenspraktiken in stationären Erziehungshilfen“ (S.293).

Darin heißt es:

“Da eben diese starke Verregelung im Essalltag der jungen Menschen meist präsenter ist als autonome Esspraktiken, wurde gefordert, den Jugendlichen mehr Raum für Mitsprache-, Gestaltungs-, und Entscheidungsmöglichkeiten zu geben, etwa hinsichtlich der Fragen – was will ich wann, wo und mit wem essen“.

Und etwas weiter:

„Im Fokus sollten die Jugendlichen als Teil der Gesellschaft stehen. Die Wohngruppe ist eine eigenständige Lebensform, die aber weder den Anschluss zur Gesellschaft noch zur Teilhabe an der Gesellschaft führen darf“

Dem ist nichts hinzuzufügen.

Was ich sagen möchte ist folgendes. Ich befürchte, es gibt jede Menge Regelungen und Abläufe in den Erziehungshilfen, die unhinterfragt so für richtig und wichtig erachtet werden, denen es an Reflexion und Prioritätensetzung mangelt.  Deren Einhaltung eine Menge Energie und gute Laune frisst, bei Pädagogen wie Jugendlichen. Wenn wir hier mutiger werden können wir alle sehr viel gewinnen. Das sich Jugendliche weniger an Zumutungen abarbeiten müssen und dafür Zeit für die wichtigen Dinge erhalten. Nach dem Motto: weniger Stress wegen dem Brokkoli, dafür mehr Energie für anständige Hausaufgaben, Gespräche und Kickerturniere.

Für eine Jugendhilfe, sie so denkt würde ich gerne arbeiten.

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