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Feb 2022
Checks und Balances

Vor einiger Zeit habe ich mir die Dokumentation „Warum Kinder keine Tyrannen sind“ des WDR angeschaut. Darin wird der Frage nachgegangen, ob einer der bekanntesten Kinder- und Jugendpsychiater Deutschlands, Michael Winterhoff, jahrelang mit sehr fragwürdigen „Diagnosen“ und noch viel fragwürdigeren Medikamentenverschreibungen Kinder in Kinderheimen eher misshandelt als behandelt hat.

(Weiteres unter: www.kindersindkeinetyrannen.de)

Diese Doku hat mich sehr beschäftigt.

Sollte auch nur ein Teil dessen stimmen, was dort dargestellt wurde, hat er vielen Kindern und Familien enormes Leid zugefügt. Laut der Doku war er in über 20 Jugendhilfeeinrichtungen aktiv.

Eine entscheidende Frage neben der, wie man den Betroffenen jetzt gerecht werden kann, darf jetzt nicht nur sein, was Herr Winterhoff falsch gemacht hat.

Die zentrale Frage ist, wie wir Kinder in den Erziehungshilfen vor Willkür und Machtmissbrauch wirkungsvoller schützen können.

Wie kann es sein, dass jahrelange offensichtliche Fehlbehandlungen eines Psychologen unter den Augen von Erziehern, Lehrern und der Eltern stattfinden können? Und was müssen wir unbedingt daraus lernen?

Im politischen System der USA gibt es ein Prinzip, dass nennt sich „Checks und Ballances“. Funktionieren die „Checks and Ballances“ beaufsichtigen und überprüfen sich die verschiedenen Staatsorgane gegenseitig, so dass ein relatives Gleichgewicht der Macht und eine gewisse gegenseitige Kontrolle entsteht.

Auch in der Jugendhilfe gibt es verschiedene Akteure, die jeweils ihr Aufgabengebiet, ihre Bedürfnisse, Traditionen, (finanziellen) Interessen und Probleme haben. Diese sind:

Die Jugendämter, die Träger/ Einrichtungen, das Gesundheitswesen (Krankenkassen/ Kliniken/ Psychiater/ Therapeuten), die (Förder-)Schulen,die Öffentlichkeit (Medien/Sponsoren….), der Gesetzgeber, die Anbieter von Aus- und Weiterbildungen

und….die Familien mit ihren Kindern.

Auch in diesem System kann man erst einmal davon ausgehen, dass die verschiedenen Instanzen sich gegenseitig auf die Finger schauen.

  • Gehen Eltern zu einem Psychiater und dieser verschreibt Medikamente, können die Eltern die Pädagogen in der Tagesgruppe fragen, was sie davon halten.
  • Erzählt ein Kind in der Schule glaubwürdig, dass es in der Heimgruppe größere Probleme gibt kann die Schule je nach Situation das Gespräch mit dem Jugendamt, den Eltern, der Heimleitung suchen und schlimmstenfalls die Eltern unterstützen, die Einrichtung zu wechseln.
  • Umgekehrt kann die Einrichtung zur Not aktiv werden, damit ein Kind die Klasse oder Schule wechselt.
  • Die Eltern können entscheiden, ob eine andere Schule vielleicht geeigneter für ihr Kind ist.

Wo so viele Menschen aus so vielen Blickwinkeln auf ein Kind schauen, kann niemand wirklich auf Dauer größeren Mist bauen. Denkt man.

Das kann alles ganz gut funktionieren, solange sich alle Beteiligten halbwegs auf Augenhöhe begegnen und jeder recht frei seine Einschätzung einbringen kann. Solange das Machtgefälle zwischen den Beteiligten nicht allzu groß ist.

Wie es laufen kann, wenn es nicht gut läuft, haben wir als Familie recht schmerzlich erfahren.

Aufgrund seiner Auffälligkeiten wurde Ds. Mutter ein stationärer Aufenthalt in einer 250 km von ihrem Wohnort entfernten Kinder- und Jugendpsychiatrischen Klinik für D. nahegelegt.

Der ärztliche Direktor dort war gleichzeitig auch der Leiter der therapeutischen Abteilung des Heimes, in der mein Neffe betreut wurde, damals noch in einer Tagesgruppe.

Dies gewährleiste optimale Absprachen zwischen der Klinik und dem Heim.

Den Klinikaufenthalt abzulehnen war damals schwierig. Der Leiter der Einrichtung meinte, ohne eine medikamentöse Einstellung könne er Ds. weiteren Verbleib in der Tagesgruppe nicht garantieren. Das nennt man wohl „die Pistole auf die Brust setzen“.

  1. verbrachte etwas über 5 Wochen in der Klinik. Wir fuhren 5 Wochen lang einmal wöchentlich 500km, um ihn zu besuchen.

Ich habe bezweifelt, ob eine bessere Kommunikation zwischen Klinik und Einrichtung diesen Aufwand (insbesondere den emotionalen) wert war. Vielleicht muss man einen 8-jährigen selber einmal in eine 250 km entfernte Klinik gefahren, ihn dort 5 Wochen abgeben und die nächsten 5 Jahre feststellen, dass die Medikamentengaben unverändert bleiben. Bestand hier wirklich so großer Gesprächsbedarf?

Aber dies nur am Rande.

Nach seiner Rückkehr erhielt D. Methylphenidat aufgrund seiner ADHS-Diagnose und

Quilonium Retard aufgrund seiner „bipolaren Störung“. Von April 2004 bis Juli 2010, morgens und mittags Medikinet und morgens und abends Quilonium Retard.

5 Jahre lang gab es hierzu keine Gegenstimme (außer der seiner Großeltern, meiner und seiner eigenen).

In meinem Job als Pädagoge habe immer wieder erlebt, wie zwiespältig Medikationen oft von Eltern gesehen werden. Es gibt alle möglichen Varianten. Da sind die Eltern, die sagen sie halten die Medikamente zwar für falsch, aber der Arzt habe so entschieden. Es gibt vereinzelt Eltern, denen nicht klar ist, dass nicht der Arzt, sondern sie darüber entscheiden, was ihre Kinder einnehmen und was nicht. Darüber kann man sie aufklären und ihnen den Rücken stärken, sich ihre eigene Meinung zu bilden. Selbst der beste Arzt kennt ein Kind nach ein paar Besuchen nicht so gut wie die Eltern.

Dann gibt selbstbewusste Eltern, die die Empfehlung des Arztes ablehnen (oder ihr zustimmen). Manche sind aber unsicher und tun etwas sehr Sinnvolles: sie reden mit den Lehrern und Pädagogen und fragen sie nach ihrer Meinung. Wie läufts im Unterricht, wie am Nachmittag.

Auf diese Art und Weise kommen nach allem, was ich erlebt habe, recht sinnvolle Entscheidungen zu Stande. Ich habe fast ausschließlich Eltern kennen gelernt, die aus meiner Sicht trotz aller eigener Probleme einen umsichtigen und abgewogenen Umgang mit Medikamenten, in der Regel Ritalin oder Medikinet, hatten.

Mal wurde den Empfehlungen des Arztes gefolgt, mal nicht.

Die Eltern haben ein faktisches Mitspracherecht. Es gibt verschiedene Personen, die ihre Einschätzung frei äußern können und den Eltern beratend zur Seite stehen können-wenn die Eltern dies wollen.

All dies war bei den Entscheidungen rund um Ds. Medikamente nicht möglich. Es gab einen Boss. Der hatte das Sagen sowohl in der Klinik als auch im Heim.

Welcher Mitarbeiter legt sich schon mit seinem Vorgesetzten an, dem Abteilungsleiter und Professor der Klinik? Die Schule gehörte übrigens auch zu Einrichtung. Selbst die Lehrer unterstanden dem Professor.

Ich habe nie von irgendjemanden der Einrichtung ein unterstützendes Wort bezüglich meiner Kritik an den Medikamenten erhalten. Niemand beißt gerne in die Hand, die ihn füttert.

2010 besuchte D. eine andere Klinik, wegen seiner schlechten Leberwerte aufgrund der Medikamente. Dort äußerte sich dann die Krankenschwester erschrocken über die Medikamentenkombination und Dosierung, die D. seit 5 Jahren unverändert erhielt. Sie meinte mir gegenüber, sie arbeite schon lange in der Klinik, aber diese Kombination habe sie noch nicht erlebt.

Die erste Gegenstimme – die Erste, die sich eine eigene Meinung erlauben konnte, da sie nicht zur Einrichtung gehörte, so ein Zufall.

Ich habe dann auf Ds. Wunsch hin keine Zustimmung mehr zu irgendwelchen Medikamenten gegeben – und mir dafür viel Kritik von Seiten der Einrichtung angehört. Fortan war ich für alle Probleme verantwortlich, die bereits vorher bestanden: seine Leistungen in der Schule, Ds. Stimmung in der Gruppe etc. Dies lässt sich in verschiedenen Sachstandsberichten auch nachlesen.

Es gibt im Leben von Kindern viele Entscheidungen abzuwägen und zu treffen: ist die Schule die richtige? Therapie ja oder nein und wenn ja bei wem? Sind strengere Regeln angebracht oder mehr „lange Leine“? Und, und, und.

Bei all dem brauchen Eltern und Kinder Menschen, die ihnen unabhängige fachliche Meinungen zur Verfügung stellen.

Ich denke, dies ist auch im Falle von Herrn Winterhoff kaum der Fall gewesen. Ich stelle mir vor, dass die Einrichtungen sich gerne mit einer „Koryphäe“ aus dem Fernsehen wie ihm geschmückt haben. Da wird es als Eltern oder „kleiner Erzieher“ ganz ganz schwer, sich mit einer abweichenden Meinung Gehör zu verschaffen. Daher halte ich es grundsätzlich für sehr fraglich, ob Einrichtungen überhaupt mit Therapeuten zusammen arbeiten sollten, die so in der Öffentlichkeit stehen wie Herr Winterhoff. Die Einrichtungen sollten sich mit guter Jugendhilfe schmücken und nicht mit Gesichtern aus dem Fernsehen.

Dann funktionieren jegliche Formen von „Checks and Ballances“ einfach hinten und vorne nicht mehr.

Ich kann nur sagen, dass es das Allerletzte gewesen wäre, was ich mir gewünscht hätte:

Mit meinem Neffen vor Herrn Winterhoff zu sitzen und mir seine Diagnose anzuhören.

Meiner Familie hat „unser“ Professor voll und ganz gereicht.

Jugendhilfe wird sich nicht nur weiterentwickeln durch bessere Qualifikationen der Mitarbeiter. Sie wird sich vor allem weiterentwickeln durch die Betrachtung und Kontrolle von Entscheidungsstrukturen und Machtverhältnissen. Wir müssen es schaffen, auch den leisen Stimmen, denen der Kinder, der Eltern, der Pädagogen und Lehrer vor Ort Gehör zu verschaffen. Bei allen Problemen, die Eltern möglicherweise in ihrem Leben zu bewältigen haben: sie kennen ihre Kinder am längsten, werden auch noch ihre Eltern sein wenn die Kinder die Jugendhilfe wieder verlassen haben und haben in aller Regel das größte Interesse am Wohlergehen ihrer Kinder.

In der Jugendhilfe wird viel von Partizipation, Beteiligung und Beschwerdemanagement gesprochen. Bis diese schönen Ideen flächendeckend mit Leben gefüllt sein werden wird es noch ein langer Weg sein.

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